Ulrich Schmied, Poet des Hammers

ULRICH SCHMIED

eisen bildhauer

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Poseidon

Urs wurde am 27. März 1968 im schweizerischen Solothurn geboren.

Es war ein kalter Frühlingstag, die Natur versteckte sich noch unter tiefem Schnee. Der kleine Mann war eine Frühgeburt - acht Wochen vor der Zeit aus dem Schoß seiner Mutter entflohen, geboren in eine ungewisse Zukunft.

Ursina, die Mutter des kleinen Bündels, gerade 16 jährig, vergewaltigt von einem jungen Mann aus dem Kanton Bern, war der Aufgabe, das Kind zu versorgen, von Anfang an nicht gewachsen. Noch vor Ende des Jahres gab sie ihren ungeliebten Sohn zur Adoption frei.

Der Junge fand keine Familie, er kam zu immer wieder neuen Pflegeeltern oder in wechselnde Heime.

Urs blieb in seiner Entwicklung zurück, klein und schmächtig, auch seine schulischen Leistungen ließen zu wünschen übrig. Schwächstes Glied in einer eh recht angefressenen Kette, wurde er zum Prügelknaben und Außenseiter.

Lediglich im Fach Musik konnte er Momente des Glücks erleben, besonders die Töne von Blechblasinstrumenten entrückten ihn in eine Welt der Phantasie. Seinem Musiklehrer Bruno Tanner, einem Freund des Modern Jazz, fiel sofort auf, dass sein kleiner Schüler auf die Töne von Tuba, Horn, Saxophon und Trompete besonders stark reagierte.

An seinem 12. Geburtstag bekam Urs von seinem Lehrer Tanner ein altes, etwas abgegriffenes Horn geschenkt. Es war das erste wirkliche Geschenk, das der schmächtige Junge je bekommen hatte. Von nun an ging er jeden Dienstag um 16 Uhr vom Heim aus zu seinem Musiklehrer und besuchte ihn in dessen Wohnung.

Das erste Mal schlich Urs langsam und bedächtig die steile Treppe hinauf. Oben angekommen betätigte er den alten Klingelknopf. Tanner öffnete, und der Junge tauchte – ja tatsächlich, „tauchte” ist das richtige Wort – in eine neue Welt ein, die dem jungen Schüler noch so neu und fremdartig erschien.

Urs blickte um sich und machte Dinge aus, die er noch nie gesehen, geschweige denn gehört hatte. Musikinstrumente, hunderte mögen es gewesen sein, aufgereiht auf verstaubten Regalen oder von der Decke dieser außergewöhnlichen Wohnung hängend, ließen ihn andächtig staunen. Tausende Schallplatten, sorgfältig gestapelt, ließen kaum Platz für anderes. Aus den Boxen der Musikanlage ertönte die Trompete von Miles Davis.

Der Junge war überwältigt, sein Kopf schien zu explodieren, er fühlte sich gefangen, lebenslänglich gefangen für den Jazz.

Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich zu Hause, angekommen in der Welt der Töne und des Rhythmus, in der Musik – der Jazzmusik.

Urs lernte, und das tat er schnell und gern, und er hatte Talent – ein ganz besonderes sogar.

Ein Jahr verging, und der Schüler machte große Fortschritte, alles in seinem kleinen Kopf wurde zu Musik und Tönen.

Bruno Tanner machte ihm ein zweites Geschenk, ein altes Transistorradio und 100 Batterien. Jetzt konnte Urs in jeder freien Minute die Musik hören, die ihn eintauchen ließ in seine Welt, die Jazzwelt des frühen 20. Jahrhunderts.

Schnell kannte er die Sender und die Zeiten auswendig, in denen seine Musik gespielt wurde; Louis Armstrong, John Coltrane, Charlie Parker, Oscar Peterson, Theolonious Monk und natürlich immer und immer wieder Miles Davis.

poseidophon

Dabei vergaß er nicht die eigene Musik, er spielte sein Horn und seit einiger Zeit auch das von ihm geliebte Saxophon. Seine Fortschritte wurden immer größer, seine Fähigkeiten auf den Instrumenten wuchsen. Seine zarten Finger glitten oder schossen nur so über seine Werkzeuge.

Er fing an, selbst zu komponieren, eigene Stücke zu spielen; die Musik eines außergewöhnlichen Jungen ertönte in der Wohnung seines Musiklehrers.

Bruno Tanner ahnte, welch ein Ausnahmetalent er herangebildet hatte. Er sprach mit niemandem darüber, und dem Jungen hatte er verboten, über ihr Jazzgeheimnis zu sprechen. Aber er musste sich nicht sorgen, Urs sprach sowieso mit niemandem.

Zu seinem 14. Geburtstag bekam er von seinem Lehrer eine Eintrittskarte für ein Konzert seines großen Idols Miles Davis geschenkt. Am 13. Mai 1982 spielte Davis im Kaufleuten in Zürich.

Tanner und Urs fuhren mit der Bahn nach Zürich. Für Urs war es das Erlebnis, eine Art Erleuchtung, seine Jazzerleuchtung. Davis strahlte an diesem Abend, er leuchtete, vielleicht nur für den Jungen in einer der letzten Reihen.

Beflügelt von diesem Konzertbesuch übte der junge Musiker noch intensiver als die Jahre zuvor.

Das Verhältnis von Tanner zu seinem Schüler begann sich allmählich zu verändern, der Lehrer konnte ein Neidgefühl auf das doch von ihm geförderte Talent nicht unterdrücken. Er fing an, von dem Jungen Dinge zu verlangen, die diesem total fremd waren. Er zwang ihn zu sexuellen Handlungen, er erpresste ihn. Musik und Instrumente, Schallplatten-Hören gab es nur noch gegen Sex. Urs spürte instinktiv, dass jetzt hier nichts mehr stimmte – konnte aber seine Musik, sein Leben nicht einfach aufgeben.

Angeekelt musste er sich nach der Beendigung seines „Unterrichts” übergeben oder aber – und dies wurde allmählich zur Sucht, zu einer Obsession – er lief, so schnell er konnte, zur Aare hin, stürzte sich bei Wind und Wetter, egal bei welchen Temperaturen, in den Fluss, tauchte unter, säuberte sich, tauchte auf und wieder ab, verlor fast den Verstand. Leere, Rauschen, Jazz – alles durcheinander floss durch seinen Kopf und Körper.

An einem dieser Dienstage im August vergnügten sich andere Jungen etwas entfernt am Ufer der Aare, ausgelassen schwimmend und springend, den Spätsommer genießend. Es waren seine Mitschüler aus dem Jugendheim. Einer von ihnen entdeckte Urs durch die Zweige eines Gebüsches und sah, wie dieser sich, noch alle seine Kleider tragend, seiner dienstäglichen Reinigung hingab. Urs bemerkte die Jungen nicht. Er musste tauchen. Er wusch seinen Jazz rein, der hier eigentlich zum traurigsten Blues der Welt wurde.

Die anderen Jungen liefen hinüber zu dem Uferabschnitt, an dem Urs abgetaucht war. Schnaufend und nach Luft schnappend, manchmal einen verzweifelten Schrei ausstoßend, kam er wieder hoch und zog sich, einem jämmerlichen Hund gleichend, tropfend aus dem Wasser. Erschrocken und blass geworden starrte er in die Fratzen der gemein auf ihn einschreienden Jugendlichen. Marcel, der Anführer der Gruppe glotzte ihn an und rief: „Schaut her, da haben wir ja einen tollen Poseidon!”

Von nun an hatte Urs seinen Spitznamen – nein, den Namen, mit dem er die Welt erobern sollte.

Die Geheimnisse mit seinem Schüler, die Tanner drei Jahre lang verborgen halten konnte, kamen ans Tageslicht. Der Musiklehrer wurde von der Kantonspolizei verhaftet und vor Gericht verurteilt zu lebenslangem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt. Urs war nicht sein erster Schüler gewesen – aber sein letzter.

Urs verstummte, isolierte sich, verkümmerte. Das Heim und der Jugendarzt wussten nicht mehr, was mit ihm tun. Der Jazz in ihm war erloschen. Alles in ihm war gestorben. Ein junger, 16 jähriger, lebender Toter.

Nach langem Rätseln entschloss man sich, den jungen „Poseidon” in eine neu gegründete Großfamilie in den Kanton Schaffhausen zu übergeben.

Hier kümmerte man sich um den gebrochenen Jugendlichen, päppelte ihn langsam wieder auf. Fast jeden Abend saß er auf dem Rand des Brunnens, der dem Haus der Familie gegenüber lag. Er wollte noch so manches Mal abtauchen – aber er musste es nicht mehr.

Der Junge machte eine Lehre zum Spengler, noch immer in sich gekehrt, aber dem Handwerk gegenüber positiv eingestellt und fleißig lernend.

Ein halbes Jahr vor seiner Abschlussprüfung, um Weihnachten muss es gewesen sein, stolperte er die Treppe im Haus seiner Familie hinauf – als er plötzlich Musik von Miles Davis hörte. Clara, eine der Töchter der Familie, hatte sich eine Schallplatte von Davis gekauft.

Poseidon stand wie gebannt im Türrahmen von Claras Zimmer. Er fing an zu strahlen, zu leuchten – wie damals Miles Davis in Zürich.

Ganz plötzlich kamen die Erinnerungen an seine Fähigkeiten als Jazzmusiker zurück. Er rannte die Treppe hinunter und stürzte sich in das Wasser des Brunnens gegenüber, er tauchte nach seinem Jazz.

Er lebte wieder! War auferstanden aus den Wassern eines herkömmlichen Brunnens im Kanton Schaffhausen!

Mit einer Ausnahmegenehmigung der Spengler Innung baute Urs zu seiner Abschlussprüfung ein „Poseidophon”, ein Instrument, welches in Zukunft die Welt des Jazz erobern sollte. „Poseidon” war wiedergeboren, sein Instrument nannte er heimlich „Clara”.


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