Ulrich Schmied, Poet des Hammers

ULRICH SCHMIED

eisen bildhauer

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Blue Adebar

Spätsommer in der norddeutschen Tiefebene, genauer gesagt in den Niederungen Stapelholms; am frühen Morgen liegt flacher Nebel über den Wiesen, das Vieh käut friedlich wieder, die ersten Zugvögel denken über ihren Abflug nach. Reiseziel – eventuell Spanien, das ist nicht ganz so weit wie Nordafrika, und die Frösche sollen auch ganz gut schmecken ....

Ismael, der Hoier Boier – wie man die Störche hier nennt - ein schon etwas in die Jahre gekommener Prachtvogel, sitzt auf seinem Nest. Morgen, ja morgen geht die Reise los! Die letzten Monate und Jahre war er der Herr über den „Stapelholmer Heimatkrog”, einer Wirtschaft im nordfriesischen Seeth.

Er sah sie alle kommen und gehen, die gut situierten Sommerfrischler, den Gemeinderat, die Genossen vom Sparclub, Stammgäste, den Heimatschutzverein und manchmal schräge Musiker und Künstler – und viele, die sich dafür halten.

Seit 13 Jahren war er das Wahrzeichen des Stapelholmer Kruges und selbstverständlich auch das Wappentier im Wirtshausschild über der Eingangstür.

An diesem Abend im August thront Ismael ein letztes Mal über der ihm so lieb gewordenen Landschaft, seiner Heimat. Die fetten Wiesen haben ihn gut ernährt in den vergangenen Jahren, viele Söhne und Töchter hat er hier aufgezogen, war der König der Lüfte über Stapelholm, über Eider, Treene, Sorge. Instinktiv spürt er, dass er niemals zurückkehren wird.

Mit dem ersten Sonnenstrahl macht Ismael sich auf den Weg; ein letzter Schiss ins Nest, dann breitet er stolz sein Gefieder aus, hebt ab und fliegt dem Süden entgegen.

Unterwegs trifft er auf Kollegen, schnell sind sie eine Gruppe von etwa 20 Störchen. Über die Westküste Schleswig-Holsteins, die Inseln Ostfrieslands, über Holland und Belgien zieht es die Vögel Richtung Spanien. Sie kommen gut voran, sich wundernd über die Menschen, die dort unten unablässig hin und her eilen. Aber das sind für diese Vögel vollkommen normale Gedanken.

Ismael ist gut bei Kräften, trotz seines fortgeschrittenen Alters führt er immer wieder seine Gruppe an. Er hat das Wissen, die Ruhe und die Erfahrung, seinen Trupp sicher zu leiten.

Am vierten Tag erreichen sie Calais, über Le Havre und die Bretagne geht es weiter nach Süden. In La Rochelle legen sie eine Rast ein, fressen sich in den Bodden-ähnlichen Gewässern rund um Bordeaux satt und fliegen auf den Golf von Biskaya zu.

Das Wetter in der ersten Septemberhälfte ist fabelhaft, Hoch „Anita” hat sich fest über Europa eingenistet und sorgt seit Tagen für Temperaturen um die 30°. Als Biarritz in Sicht kommt, ist sich Ismael sicher, sein Ziel bald erreicht zu haben. Ein kleines Dorf zwischen San Sebastian und Gernika, oben im Baskenland soll seine letzte Heimat sein. In San Prudentzio setzt er zur Landung an – nicht ohne sich von seinen Mitreisenden zu verabschieden, die weiter nach Marokko oder Algerien ziehen.

Seine langen Beine landen auf einem abgeernteten Maisfeld am Rande des Dorfes. Es kommt ihm alles so bekannt vor, diese Landschaft hat er schon unzählige Male überflogen. Eine innere Stimme, vielleicht der Ruf des Vogelgottes, sagt ihm: hier in Prudentzio wirst du gebraucht. Er richtet sich ein, ist schnell beliebt bei den Bewohnern des Dorfes und den Bauern und Landarbeitern der umliegenden Ortschaften. Mäuse, fette Frösche, Obst und gute Reste ernähren den Neu-Basken aufs Beste. Er fühlt sich wohl, wartet aber seit seiner Ankunft auf ein Zeichen seines Vogelgottes. Er spürt eine innere Unruhe – er soll eine Aufgabe bekommen – er weiß es.

Juan Pablo Morena, ein 13 jähriger Junge von einem kleinen Hof einer Landarbeitersiedlung in der Nähe San Sebastians hat sich auf den Weg zum Meer gemacht. Gegenwind mit Stärke 7 aus Nordwest macht ihm das Fortkommen auf seinem alten Fahrrad schwer. Gern fährt er raus ans Meer, die fast 15 Kilometer machen ihm nichts aus. Er kennt die Strecke, fährt er sie doch mehrmals die Woche, denn er wird geplagt vom Fernweh.

Endlich – angekommen! Hohe Wellen rollen an die Küste. Das Blau des Ozeans, die hellen Schaumkronen und die laut tönende Brandung lassen den Jungen in eine tiefe Ruhe fallen. Er kauert sich nieder, geschützt zwischen zwei großen Steinen.

Schließlich setzt er sich und genießt die Stimmung zwischen Land und Meer. Er kratzt Tabak aus einem kleinen Ledersack, den er stets bei sich führt, und dreht sich eine seiner geliebten Zigaretten. Zufrieden sitzt Juan Pablo an der Küste seiner Heimat und raucht. Während er über alles Mögliche nachdenkt, wird er von einem großen Schatten abgelenkt, der über seinen Körper gleitet. Er schaut nach oben und erblickt einen großen Vogel. Es ist Ismael, der Storch, der Adebar, König der Lüfte. Zwei-, dreimal kreist der Vogel dicht über Juan, er kann ihn fast greifen, so nah ist ihm das Tier.

Der Vogel krächzt und setzt zur Landung an. Nur einen halben Meter von Juans rechtem Fuß entfernt hockt er sich zu dem jungen Mann. Der ist erstaunt aber auf keinen Fall ängstlich, langsam streckt er die Hand aus und berührt das Gefieder des Vogels. Dieser bleibt ruhig und lässt das Streicheln seiner Federn gern zu.

So sitzen die Beiden bis zum Anbruch der Dunkelheit zusammen, kommen sich näher, ein jeder spürt den anderen. Eine Harmonie ihrer doch so unterschiedlich angelegten Gehirne stellt sich ein, auf eine – man kann sagen - magische Art verstehen sich Juan Pablo und Ismael, der Storchenvogel.

Es dunkelt, die beiden neuen Freunde müssen sich trennen, aber beide wissen, dass sie sich hier wieder sehen werden. Und tatsächlich, am nächsten Tag und an vielen darauffolgenden Tagen trifft sich das ungleiche Paar.

Juan spielt mit seinen zärtlichen Händen im Gefieder seines Gefährten. Die großen Schwingen des Vogels sind für ihn einer Harfe gleich, vielleicht auch den Saiten einer Gitarre. Er hört Töne aus den Federn klingen, die ihm zu einer leisen Musik werden. Juan kann es kaum glauben: er macht Musik auf dem Gefieder eines Vogels, er „spielt” den Adebar!

blue adebar

Im Laufe der nächsten Wochen und Monate wird aus Ismael und Juan ein Duo – Instrument und Virtuose. Es sind Klänge, die betörend und zärtlich, manchmal rau und hart , berauschend und liebevoll daherkommen.

Mittlerweile sind die beiden Freunde unzertrennlich, Ismael begleitet seinen Gefährten auf allen seinen Wegen, er wohnt bei und mit Juan.

Bald sind sie im Baskenland bekannt, der Junge und der Vogel. Nicht nur Juan hört die „Storchenharfe”, inzwischen spielen die beiden allabendlich auf dem Dorfplatz, erklingt die Musik aus dem Gefieder des Vogels wie ein Konzert aus einer anderen Welt.

Die Zeit vergeht, Juans Fernweh besteht immer noch, der Vogel fühlt, dass er allmählich älter wird. Der Junge möchte jetzt zum Zugvogel werden, möchte mit seinem Storchenfreund reisen, nordwärts an der Küste entlang auftreten – vielleicht bis Stapelholm?

Der Vogel, langsam müde, seine Flügel Tag für Tag als Harfe benutzen zu lassen, hört die Stimme seines Vogelgottes. Jetzt nach all der Zeit weiß er, wer das ist – sein Gott, der Magier der Musik, der Jazzpianist Michael Naura aus Hollbüllhus. Dort in seinem Garten, an den Ufern seines Teiches, gab es die besten Frösche – „Jazzfrösche”. Diese haben ihn, den Storch, genährt und ihm seine Fähigkeiten gegeben. Dort hat er sein „Jazzgefieder” geschenkt bekommen.

Jetzt, wo Ismael alles durchschaut hat, erhebt er sich ein letztes Mal, nimmt Kurs auf den Golf von Biskaya und verschwindet, löst sich auf über dem Meer. Seine schönste Feder landet auf dem Kopf seines Freundes Juan- eine blaue Feder.

Seitdem ist Juan ein erfolgreicher Jazzgitarrist mit seinem Künstlernamen: Blue Adebar.


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